Die blauen Fahnen

„Wenn ich durch die Städte fahre, auf meiner Never-Ending-Deutschland-Tour seit 1986, und wenn ich dann Radio höre, mich verzweifelt durch die Sender spule, auf der Suche nach Musik, die mein Herz erreicht und meinen Geist belebt, dann fällt mir immer wieder ein Bild ein. Frankreich, im Sommer, am Meer, an der Atlantikküste, die sogenannte Silberküste, hunderte Kilometer feiner Sandstrand, meist menschenleer – und dann auf einmal 2 blaue Fahnen, etwa hundert Meter voneinander entfernt – und um diese beiden Fahnen herum liegen tausende von Menschen- und zwischen diesen beiden Fahnen gehen sie alle ins Wasser – wenn der Bademeister sein Zeichen gibt. Sie schwimmen vorsichtig ein paar Meter hinaus und legen sich dann brav zurück ins fleischerne Beet am Strand. Was sie nicht bemerken: links und rechts und vor ihnen liegt: das unendliche Meer. So geht es mir mit der Musiklandschaft in Deutschland: überall hören die Menschen Musik übers Radio, im Auto, im Büro, in der Werkstatt, den ganzen Tag- und immer und allerorten die gleichen paar hundert Titel. Im Oldie Radio die gleichen von früher, im Chartradio die von heute. Als ob da nicht mehr wäre. Als ob da nicht ein ganzer Ozean voller Musik wäre, groß, tief und wild, in den man eintauchen könnte, in dem man sich erfrischen könnte, in dem man sich ersaufen könnte. Wenn sie nur davon wüssten. Wenn es ihnen jemand erzählen würde. Wenn es ihnen jemand beibringen würde. Ich möchte schwimmen und tauchen, so weit und so tief wie es geht. Und ich würde gerne die blauen Fahnen verbrennen.“

Rocko Schamoni, April 2015